XIV – „The Spirit of St. Louis“ – 3.000 Tonnen Papier in der Woche – Der Welt größter Kornmarkt

Kennt man noch „The Spirit of St. Louis„? Nur wenige werden wissen, daß so das Flugzeug hieß, mit dem Charles A. Lindbergh 1927 den epochemachenden Flug von New York nach Paris unternahm. 33 Stunden, 30 Minuten und 29,8 Sekunden war der kühne Mann mit seinem „The Spirit of St. Louis“ unterwegs. Eine naturgetreue Nachahmung dieses Flugzeuges stand am 1. April in der vornehmen Michigan-Avenue vor dem Eingang der „Chicago Daily Tribune„, die sich die größte Zeitung der Welt nennt. Es ist ein gewaltiges Unternehmen und besitzt eigene Riesenwälder, aus dem es den Rohstoff für die benötigten Papiermengen bezieht, die es in eigenen Papierfabriken herstellt, das dann mit eigenen Schiffen vom Oberen See durch den Huron-See und den Michigan-See (der, nähme man einen deutschen Entfernungsvergleich, von Hamburg bis Frankfurt reicht), nach Chicago gebracht wird. Die Rotationsmaschinen dieses Riesenverlages fressen jede Woche, wie mir auf einem Rundgang versichert wird, 3.000 Tonnen Papier. Um es zu vergleichen: die „Grafschafter Nachrichten“ kommen in einem Monat mit 12 Tonnen Papier aus, und wir meinen, daß diese Menge den Lesern schon reichlichen Lesestoff bringt. Aber die „Chicago Daily Tribune“ ist doch noch nicht ganz die „größte“ Zeitung der Welt. Die befindet sich nämlich in London.

Aber was ist hier nicht die „größte“ oder das „größte“? Sie bekommen bestimmt in einem kleinen Restaurant gleich nebenan das „feinste“ Essen der Welt, und wenn Sie hinausgehinausgehen, finden Sie an der Tür geschrieben, daß Sie der „beste“ Mensch der Welt sind, der jemals durch diese Tür gegangen ist. Man muß Amerikaner sein, um diese Übertreibungen zu verstehen. Es gehört zu Amerika wie die bis zum Morgendämmern glitzernden und funkelnden und kilometerweit sichtbaren Lichtreklamen, die mit tollsten Effekten die Aufmerksamkeit des Autofahrers wie des Spaziergängers auf sich lenken.

Doch beim „Geist von St. Louis“ dachte ich an eine Unterhaltung zurück, die ich in Washington geführt hatte und in deren Verlauf ich fragte, wie es möglich sei, daß immer der beste und praktischste Weg für irgendetwas gefunden werde, das dem Menschen diene, ganz gleich, ob es im Haushalt, in der Fabrik, auf der Straße, im Verkehr oder sonst irgendwie gebraucht werde. Darauf die Antwort: „Wissen Sie, was der Mann in St. Louis sagte, als jemand zu ihm sagte, dies und das würde er anders machen? – Machen Sie es besser!“ Es sei aber schwer, den Mann am Mississippi zu überzeugen, daß die andere Art tatsächlich besser sei. „Sehen Sie“, fuhr mein Gesprächspartner fort, „wenn wir eine neue Wasserleitung bauen wollen, dann erhalten verschiedene Experten den Auftrag, sie zu bauen. Und Sie wissen, wir Amerikaner haben das verschiedenste Blut in den Adern. Der Deutsche baut anders als der Schwede, der Pole oder der Italiener.“ – „Von allem nehmen Sie dann etwas, schließen sozusagen einen Kompromiß!“ – „Aber nein, wir experimentieren, und zwar so lange, bis wir das Beste gefunden haben. Erst wird probiert; bewährt sich dann die neue Lösung, wird sie eingeführt.“ The Spirit of St. Louis – das Flugzeug auf der Michigan Avenue hatte die Warner Bros.-Filmgesellschaft für einen gleichnamigen Film nachbauen lassen, der mit James Stewart als Ch. Lindbergh binnen kurzem in den Chicagoer Lichtspielhäusern aufgeführt wird. Das Original-Flugzeug ist im Smithonian Institute [sic!], einem Museum in Washington, zu sehen.

Chicago, die zweitgrößte Stadt der Vereinigten Staaten und die viertgrößte Stadt in der Welt, hat das reichste landwirtschaftliche Hinterland. Jedoch ist die Fleischindustrie, die diese windige Stadt neben den vielen Eisenbahnen weltberühmt gemacht hat, nach anderen Plätzen gewandert. Omaha und andere Städte übernahmen das Erbe. Die Gründe, die zu dieser Dezentralisierung führten, liegen nahe. Es sei für den Laien weder beeindruckend noch instruktiv, die Schlachthäuser zu besichtigen, wurde mir gesagt, als ich den Wunsch nach einem Besuch äußerte. Der Verzicht fiel mir darum nicht schwer.

Nicht als Fachmann, aber doch als interessierter Beobachter wohnte ich im Board of Trade einem mir bislang noch fremden Handelsgeschäft bei. Korn-Austausch könnte man Grain-Exchange übersetzen, der hier in einer Halle von hunderten von Käufern und Käuferinnen veranstaltet wird. Die Notierungen anderer Plätze werden durchweg bekanntgegeben und an große Tafeln geschrieben: für Korn, für Mais, für Weizen, für Sojabohnen und für – Baumwolle. Käufer und Verkäufer bedienen sich beim Handel der Fingersprache, Innenhand zeigen heißt: „Ich will kaufen!“, Außenhand zeigen bedeutet: „Ich biete!“ Und dann geht’s los: 1 Finger ½ Cent, 2 Finger ¼ Cent, kleiner, Mittel- und Ringfinger 1/3 Cent usw. Jeder Finger bedeutet 5.000 Büschel, und mit diesem Fingerheben murmeln oder schreien sie auch wohl laut: Freie Wirtschaft regelt den Preis zum Nutzen der Verbraucher.

Als ich zu einem Museum „Wissenschaft und Industrie“, das in etwa mit dem Deutschen Museum in München zu vergleichen ist, fuhr, bahnte sich der Omnibus den Weg teilweise durch die Südstadt und durch Straßen, die ich nicht gern bei Dunkelheit begehen möchte. Hier war das andere Chicago; halb- und ganz verfallene Häuser, mit und ohne Fenster, Abfall und Dreck – der krasse Gegensatz zu den breiten, vornehmen und eleganten Boulevards, die im Norden der Stadt von der Goethe-, Schiller- und Germaniastraße gekreuzt werden. Man kann dorthin durch kilometerlange Grünanlagen pilgern, die sich am Ufer des Michigan-Sees entlangziehen. Man kann es, wenn es das Wetter zuläßt, das zur Zeit aus Nebel, Regen und Sturm besteht. Übrigens, ein Bismarck-Hotel gibt es noch mitten in der City.

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