Ein Wanderer aus dem alten Europa sollte, wenn er die Gelegenheit zu einem Besuch der Stadt des „White house“ hat, es nicht versäumen, an einem klaren Frühlingstag einen Spaziergang durch das Regierungsviertel zu machen und hierbei nicht vergessen, das hinter dem „Weißen Hause“ gelegene und von allen Seiten sichtbare Washington-Monument zu betreten. Es ist ein mächtiges Bauwerk zum Gedächtnis George Washingtons, das wie ein aufragender Finger die Wolken zu berühren scheint. Er sollte nicht nur hineingehen, er sollte mit dem Lift in die Spitze fahren, um von hier aus einen Blick über die Stadt zu werfen. Ihm wird bei diesem Rundblick bewußt, daß in Washington zunächst die Planer ihre Arbeit am Zeichenbrett verrichteten und dann aus einem kleinen Landstädtchen vielleicht die schönste, bestimmt aber die übersichtlichste Hauptstadt dieser Welt schufen. Das Auge erfaßt das Jefferson-Memorial, das Lincoln-Memorial, das „Weiße Haus“ mit der davor liegenden Elipse (Autorundverkehr um eine große elipsenförmige Rasenfläche), es ruht eine Weile, wenn auf der gegenüberliegenden Seite der breite Potomac-Strom sichtbar wird und Arlington, das Nationalzentrum mit dem Denkmal des unbekannten Soldaten, ins Blickfeld kommt.
Am Vortage weilte ich auf einer Fahrt zum Mount Vernon, dem Landsitz George Washingtons, kurz dort und wurde Zeuge, wie eine Abordnung aus Portorico nach einem grandiosen militärischen Schauspiel der Ehrenwache dort einen Kranz niederlegte. Ein solches Maß an Exerzierktunst und Exaktheit erlebte ich nicht vorher – und ich habe doch manches auf diesem Gebiet bei der Wachablösung und bei Staatsempfängen vor dem Krieg in Berlin gesehen. Hier in Washington vor dem Denkmal des unbekannten Soldaten dauerte das militärische Zeremoniell etwa eine halbe Stunde; es wurde mit den Klängen der amerikanischen Nationalhymne beendet. War es der Gipfelpunkt des amerikanischen Staatsgefühls? Des Gefühls für einen Staatenbund, den nach vielen bitteren Kämpfen Washington einigte und ihm 1789 die Verfassung gab? In einer friedlichen Umgebung seines Landsitzes mag er die Erkenntnisse und die Kraft zur Erfüllung seiner Aufgabe gefunden haben.
Auf den Spuren George Washingtons wandelnd, erkennt der Wanderer in Mount Vernon die Größe dieses Staatsmannes, der in der Einsamkeit am Potomac und umgeben von Wäldern ein einfaches, prunkloses Leben geführt hat. Seine Arbeits-, Wohn- und Schlafzimmer sind seit seinem Todestag 1799 unverändert geblieben. Sein Wunsch, in Mount Vernon seine letzte Ruhestätte zu finden, ist erfüllt worden. Sie ist zu einem Wallfahrtsort der Amerikaner geworden; ehrfurchtsvoll verneigen auch wir uns vor George Washington, der in einem Marmorsarg neben seiner Frau Martha ruht, die ihn um drei Jahre überlebte, und dessen letzten Worte waren: „Es ist gut so!“
Nach diesem kleinen Ausflug in die junge Geschichte Amerikas, die im Geschichtsunterricht unserer Schulen wenigstens bisher vielleicht etwas vernachlässigt wurde, sehe ich auf das National-Museum, erblicke ich die National Galery of Art (Nationalgalerie) und das Kapitol, den Tagungsort des Kongresses. Auch in diesen Gebäuden weilt jeder Besucher Washingtons (der Eintritt zu den Museen ist kostenlos!).
Und dann erfaßt das Auge wieder den Kern einer faszinierenden Stadt, in der man sich einfach nicht verlaufen kann, auch wenn man nicht gerade fließend amerikanisch spricht. Mit Absicht ist hier „amerikanisch“ geschrieben; denn es soll sich niemand einbilden, mit englischen Schulsprachkenntnissen die Amerikaner zu verstehen. Als Deutscher, der zum ersten Mal in den Staaten weilt, bittet man: „Speak slowly, please!“, will man den Sinn erfassen. Es ist bei der Anlage der Stadt ein Leichtes, zu einem bestimmten Platz oder zu einem bestimmten Haus zu kommen. Die Längsstraßen haben Nummern, die Querstraßen Buchstaben nach dem Alphabet. Die Diagonalstraßen sind breite Avenuen und tragen meist den Namen einer der 48 amerikanischen Staaten.
Hier in Washington hat man bei der Planung an alles gedacht, ausgenommen anscheinend an das Parkplatzproblem, das seiner Zeit auch noch nicht so brennend war wie heute. So sind die drei, noch frei gebliebenen Plätze zwischen den hohen Häusern schon in den Morgenstunden besetzt. Ebenso sind es die Garagen, in denen man die Wagen auf Serpentinen hochfährt, und von denen es zwar viele, aber nicht genug gibt. Die Nebenstraßen sind im Nu ebenso überfüllt, und glücklich schätzt sich der Autofahrer, der morgens um 8 Uhr noch ein freies Plätzchen findet.
Über das Ausmaß des Autoverkehrs kann man sich nur ein Bild machen, wenn man sich vor Augen hält, daß Fußgänger alltags wie Sonntags zu den Seltenheiten gehören. Hier gibt es kein Promenieren, kein Flanieren in den vielen Straßen mit den vielen großen und eleganten Geschäften – aber, der Fußgänger, wenn er einmal auftaucht, ist König. Er kann der Reverenz aller Autofahrer gewiß sein, wenn er über die Straße geht. Und hier scheint mir eine Charaktereigenschaft des Amerikaners zu liegen: er ist tolerant, er achtet die Lebensweise des anderen, er ist diszipliniert und ordnet sich trotz aller persönlichen Freiheit, die er für sich in Anspruch nimmt, gern und willig in die Gesellschaftsordnung ein. So ist ein Gemeinschaftsgefühl entstanden, eine freiwillige Unterordnung, auf die der Staat bauen kann.
Das also spürt man in dieser Stadt, in der es keine Kleinwagen, keine Motorroller und keine Motorräder, geschweige denn Radfahrer gibt. Auch Lastkraftwagen durchfahren kaum die Stadt, und die Hunderttausende von Autos, die durch die Straßen kreuzen, hört man kaum. Ich weiß nicht, wieviel Phon im Durchschnitt in Nordhorns Hauptstraße registiert werden. Ich weiß aber: Nordhorn sollte auf diesem Gebiet mit Washington in einen Wettbewerb treten. Ebenso wie das Lärmproblein scheint hier das Geruchsproblem hinsichtlich der bei uns so oft von Benzin verpesteten Luft gelöst zu sein.
Alles dies bedenkend und mit dem Versuch, die vielfältigen Eindrücke zu ordnen und zu registrieren, wird der Besucher vom Lift wieder geräuschlos zur Erde gebracht. Er sieht vor sich das nächste Ziel: den Besuch der großen Museen.