XI – Frisco

„Wären Sie einen Tag früher gekommen, hätten Sie in San Francisco ein Erdbeben erlebt – es war das heftigste seit der Zerstörung dieser wunderbaren Stadt 1906 -, dann hätten Sie viel schreiben können“, waren die Begrüßungsworte des Beamten vom „Department of State Reception Center“, als ich mit dieser internationalen Stadt am Pazifischen Ozean bekannt werden sollte. Von dem Taxifahrer, der mich am Vorabend ins Hotel gefahren hatte, wußte ich bereits davon, und riesengroße Schlagzeilen „Big Quake“ der Tageszeitungen berichteten von den Schrecken der letzten Nacht und riefen die Tage von 1906 wieder in die Erinnerung der 800.000 zählenden Einwohner zurück.

Diesmal ist es aber noch gut gegangen, die Erschütterungen sind zwar heftig gewesen, und trotzdem bemerkte ich außer einigen Rissen in manchen Häusern auf dem Dach eines Wolkenkratzers nur einen umgestürzten Sendeturm. Ich wäre auch nicht begierig gewesen, ein Erdbeben mitzumachen.

San Francisco – die Stadt des heiligen Franz von Assisi – über sieben Hügel und sieben Berge hinweggebaut, mit Buchten und dem in herrlichem Blau schimmernden Pazifik ist von einer zauberhaften Schönheit. Sie bietet soviel Interessantes und internationales Leben, daß man sich nur schwer wird wieder trennen können. Das „Bagdad des Westens“ wird San Francisco genannt, doch der Bürger nennt seine Stadt schlicht „Frisco, California“, und jeder Mensch im Westen weiß, welche Stadt gemeint ist.

Californien ist reich, nicht nur an Früchten, sondern ebenso an Bodenschätzen und an aufblühender Industrie. San Franciscos Wirtschaftsaufstieg ist nicht zuletzt das Verdienst des großen weltberühmten Hafens, der regelmäßig von 70 Schiffahrtslinien angelaufen wird. Hier hat das größte Bankhaus der Welt, die „Bank of America„, ihr Stammhaus, und viele Grubengesellschaften – vom Goldrausch erzählt ein Museum im Bankhaus „Wells Fargo“, das 1852 gegründet wurde und Postkutschen durch den wilden Westen und Schiffe über die Meere fahren ließ – haben hier ihren Sitz.

So zogen die Pioniere, die Goldsucher, im vergangenen Jahrhundert nach dem Westen, so ziehen die Menschen auch heute noch und hoffen, dort viele Dollars zu machen; denn von diesen 800.000 Einwohnern dieses ehemaligen spanischen Missionsdorfes sind etwa 60.000 Italiener, 40.000 Deutsche, 35.000 Chinesen und 20.000 Japaner. In der Altstadt erinnert noch die Architektur der Häuser an den spanischen Einfluß. Im italienischen Viertel in der Nähe von Fishermans Wharf gibt es viele feine Restaurants für Schlemmer. Hier hat auch Marilyn Monroes erster Mann, Di Maggio, ein bekannter Basketballspieler, ein solches Lokal, wie mir gesagt wurde, als ich dort stand und man mich fragte, ob ich nie etwas von ihm gehört hätte. Nein! Aber doch sicherlich von Marilyn Monroe? O ja. Na, dann erhielt ich die Aufklärung, was es mit dem Besitzer dieses Lokals auf sich habe.

Aber die hier beginnende Rundfahrt durch die Bucht von San Francisco zur Golden-Gate-Bridge und zur Bay-Bridge, San Francisco – Oakland, reizte mich mehr als ein Schlemmeressen bei Di Maggio. Auch die Italiener haben also ihr Viertel, sind aber natürlich längst Amerikaner wie die Deutschen auch. Nur die Chinesen leben noch ihre Kultur, und diese China-Town, wie ihr Viertel genannt wird, ist die größte geschossene Siedlung der Chinesen außerhalb ihres Mutterlandes. Man spricht noch chinesisch; die Kinder der „Söhne des Himmels“ haben chinesische Schulen; es gibt chinesische Zeitungen, Pagodentürmchen an den Häusern, und nicht selten begegnet man den Damen im Kimono. Die schönsten und prächtigsten Kimonos aber sah ich in den Geschäften und noch viele, viele schöne Sachen mehr, die ich, hätte ich das nötige Einkaufsgeld gehabt, gern mit nach Hause genommen hätte. Stunden um Stunden kann man durch dieses Viertel von San Francisco gehen und wird des Sehens nicht müde.

So modern San Francisco auf der einen Seite ist, so altmodisch ist es auf der anderen. Klingelnd, scheppernd und ächzend wälzen sich die gelben Gable Cars [sic!] (Drahtseilbahnen) über die Hügel, rauf und runter, von einem Abhang den anderen hinauf zur gegenüberliegenden Seite der Stadt. Herrlich altmodisch. Am Endpunkt angekommen, werden sie auf einer Drehscheibe gewendet, und zurück geht die Fahrt. Ein halbes Jahrhundert sind sie alt, die Karren, die nur mit Mühe gebremst werden können. Vor einigen Jahren, so wird mir berichtet, wollte die Stadtverwaltung die Gable Cars ausmerzen und Omnibusse an ihrer Stelle den Verkehr übernehmen lassen. Sie hatte aber diese Rechnung, die den Aktivposten der Stadt verbessert hätte, völlig ohne den Wirt gemacht, d.h. in diesem Falle ohne ihre Bürger. Sie lieben nun einmal ihre Gable Cars, die zum Stadtbild gehören, und sie liefen Sturm gegen die Stadtverwaltung und ihre Pläne. Die Gable Cars gehören zu Frisco wie die Eulen zu Athen. Man muß sie schon einmal benutzt haben, sonst war man gar nicht in der schönsten Stadt des Westens. Die Bürgerschaft hat, die noch heute verkehrenden Gable Cars beweisen es ja, damals gesiegt, und darum konnte ich mit ihnen erfreulicherweise zum Fishermans Wharf hinauf und hinab humpeln. Man sage also nicht, es gäbe keine Romantik in den Staaten.

Etwas anderes beeindruckt mich aber immer wieder – die amerikanische Gastfreundschaft und das weltoffene Wesen der Amerikaner, die in fast allen Städten Vereinigungen haben, die sich um die fremden Besucher kümmern. Nie bin ich allein, wenn ich nicht will – und als ich am dritten Tage meines Aufenthalts in San Francisco wieder einmal zu einer Wagenfahrt eingeladen werde und meine Gastgeberin mit mir noch alle schönen und interessanten Punkte der Stadt ansteuert, da kam neben vielen anderen Problemen auch das Gespräch auf diese Gastfreundschaft und Freundlichkeit, die ich täglich erlebe. Sie, die mit offenen Augen durch die Welt gefahren ist und deren Großmutter eine Deutsche war, bat mich zum Schluß:

„Sorgen Sie doch dafür, daß auch Ihre Landsleute etwas Ähnliches schaffen. Vor drei Jahren war ich in Hamburg bei einer Cousine und wohnte im Hotel „Vier Jahreszeiten“. Außer mir noch eine Engländerin. Es war am Heiligen Abend. Ich wollte erst abends zu meinen Verwandten gehen, um sie am Tage bei den Vorbereitungen zum Fest nicht zu stören. Der zweite Gast des Hotels, diese Engländerin, war ganz allein, und glauben Sie, ich hätte auch nur eine deutsche Familie gefunden, die sie am Abend hätte aufnehmen wollen? Und diese Dame sehnte sich nach Gemütlichkeit, nach häuslicher Geborgenheit und nach anderen Menschen. Das tat mir so leid. Warum gibt es das nicht in Deutschland, daß in jedem Hotel einer deutschen Stadt eine Liste von Einwohnern ausliegt, die sich Weihnachten, am Fest der Liebe, um die fremden Personen, die unterwegs sein müssen, kümmern? Das wäre in Nord-Amerika nicht möglich!“

Gewiß, sie hätte hundertprozentig recht, gab ich ihr zur Antwort, aber ich bat sie um Verständnis. Wir hätten zu lange in der Isolation gelebt; die Herzen vieler deutschen Menschen seien im Kriege hart geworden, und nach dem Kriege hätte jeder mit sich selber zu viel zu tun gehabt, um nur seine nackte Existenz zu sichern und sich nach harter Tagesarbeit in seine vier Wände zurückgezogen, um nichts mehr sehen und hören zu müssen. Ich glaube nicht, daß meine Begleiterin meine Gründe anerkannt hat, doch ich weiß, daß wir Deutschen allmählich aus diesem Denken heraus und weltoffener werden müssen. Das Leben hört nicht an der Grenze auf. Ist auch die Mentalität unterschiedlich, eines wollen alle Völker – den Frieden! Lernen wir Völker der Erde uns gegenseitig kennen, dann lernen wir uns verstehen! Darum wünsche ich von Herzen, daß der Aufruf, den ich in einer der mir hier pünktlich zugehenden „Grafschafter Nachrichten“ gelesen habe und der sich an Familien wendet mit der Bitte, amerikanische Schüler für zwei Monate aufzunehmen, vollen Erfolg gehabt haben möge.

Die Gespräche, die ich mit meiner Gastgeberin während der Autofahrt gehabt hatte, wurden am gleichen Abend fortgesetzt, als ich zu einer Party als einziger Deutscher eingeladen war. Die anderen Gäste kamen aus Japan, von den Philippinen, aus Indonesien und aus vielen anderen Ländern. Wir tauschten gegenseitig unsere Anschriften – und sollten sich unsere Wege noch einmal kreuzen, dann wissen wir, wo wir Freunde finden.

Während die Zusammenkunft mit so vielen interessanten Menschen aufs beste verlief, senkte sich die Nacht über San Francisco. Das Haus, in das wir geladen waren, lag auf einem Hügel, und von unserm Zimmer aus sahen wir das unendliche Band der Autolichter über die Golden Gate Bridge flimmern. Es kam aus dem Westen und ging zum Osten, als wolle es die ganze Erde umspannen. Dieser Abend im Hause von Frau Diehl, der Witwe eines leitenden Ingenieurs der größten Brücke der Welt, von San Francisco nach Oakland gebaut, wird mir unvergessen bleiben.

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