Wenig mehr als fünf Flugstunden sind es von Williamsburg im Staate Virginia nach Knoxville im Staate Tennessee, das nach kurzen Unterbrechungen und Zwischenlandungen im Staate Nord-Carolina, wo Erdnüsse in großen Mengen wachsen, wo die Möbelindustrie blüht und wo Tabak angepflanzt wird – inmitten der großen Smokies-Gebirge, der „Blauen Berge“ – erreicht wird. In Williamsburg hält sich der Amerikaner auf, um seine Geschichte der Unabhängigkeit und des Freiheitskampfes kennen zu lernen, und still und andächtig tritt er in die Säle, in denen die großen Staatsmänner sich trafen, und in die Tavernen, in denen sie oft im Geheimen zusammenkamen, um die Grundlagen der Freiheit zu legen. Williamsburg ist Hüter der amerikanischen Tradition, die zwar nicht alt und nicht so vielfältig wie die europäische ist, die aber vielleicht gerade darum dem Amerikaner erst recht Ansporn ist, für die Gegenwart und für die Zukunft zu arbeiten.
Und den Blick in die Zukunft tat ich am zweiten Tage meines Aufenthalts in Knoxville, als ich mit einem Engländer, den ich kennen gelernt und mit dem ich Reisefreundschaft geschlossen hatte, zusammen nach Oak Ridge gefahren war und nun mit ihm in der Welt größtem Atomzentrum vor einem riesigen Reaktor staunend, aber doch auch ziemlich ratlos stand, vor dem Reaktor, der 80 Prozent aller Isotopen liefert. Es gehen viele Gerüchte durch die Welt, und eines von ihnen ist, daß Oak Ridge aufgrund der Radioaktivität die geburtenfreudigste Stadt überhaupt sei. In der Tat scheint mir dies Phänomen darauf zurückzuführen sein (ähnlich wie es früher einmal in Nordhorn war), daß Oak Ridge eine junge Stadt ist, zwar eine Atomstadt, in der aber doch sehr viele junge Menschen arbeiten. Sie tun das, was alle vernünftigen jungen Menschen tun: Bei einem ausreichenden Einkommen heiraten sie. Der Standort der Atomstadt ist darum gewählt worden, weil in Tennessee seit 1933 die Wassermassen des Tennessee-Flusses und seiner Nebenflüsse, die durch die Gebirge fließen, ausgenutzt werden. Ein riesiges Projekt wurde auf Grund eines Kongreß-Beschlusses begonnen. Neun große Stauwerke im Tennessee-River und viele, viele in den Nebenflüssen regeln heute die Wasserhaltung und üben gleichzeitig die Flut-Kontrolle über den Ohio und den Mississippi aus. Die Kraftwerke rund um den Tennessee produzieren in einem Jahr über 60 Billionen Kilowatt-Stunden. Die Landwirtschaft dieses Gebietes, die früher auf Gedeih und Verderben dem Hochwasser ausgeliefert war, nahm einen enormen Aufschwung, und wo der Strom so nahe ist, sind die Elektrizitätswerke natürlich nicht fern. Der Hauptabnehmer mit über 53 Prozent der hier produzierten Kraft ist heute selbstverständlich Oak Ridge, das gleichzeitig auch ein riesiger Verbraucher an Wasser ist und es hier in genügenden Mengen vorfindet.
Es wird keinem leicht gelingen, in Oak Ridge die Sicherheitsketten ohne Erlaubnisschein, den man zusammen mit einem Kontrollfilm am Rockaufschlag befestigt, zu durchdringen. Für den Ernstfall einer Spionage stehen auf einem eigenen Flugplatz Düsenjäger in steter Alarmbereitschaft. Standen wir – so gingen uns die Gedanken beim Betrachten des gewaltigen Reaktors durch den Kopf – am Ausgangspunkt eines neuen umwälzenden Lebens in der Geschichte der Menschheit – oder am Ende? Auch unser liebenswürdiger Führer durch das Atom-Zentrum vermochte darauf keine Antwort zu geben. Der Amerikaner, der Engländer und der Deutsche erhofften beim Abschied nehmenden Händedruck, daß Oak Ridge der Menschheit Frieden und Glück bringen möge.
Die Wolkenbank riß auf, als das Flugzeug die Atomstadt überflog, das Auge noch einmal den Norris-Staudamm erblickte, bei dem der Reisende versucht hatte, dieses Tennessee-Werk zu erkennen, ein Werk, dessen Ausdehnung größer ist als ganz England. Der Mitteleuropäer lernt in den Staaten bald, mit anderen Dimensionen zu rechnen, und hätte er nicht den bequemen und schnellen Flugreisedienst, er würde Tagesreisen und mehr opfern müssen, um die Entfernungen zurückzulegen, zu denen man jetzt nur Stunden benötigt.
Eine neue Seite des großen Amerika-Erlebnisses ist bereits, während diese Zeilen geschrieben werden, im 10. Stock des Hotels „New Orleans“ in der gleichnamigen Stadt im Staate Louisiana an der Mündung des Mississippi und am Golf von Mexiko aufgeschlagen. Ich sehe hinab auf die Canal Street, Amerikas breiteste Fernverkehrsstraße durch eine Stadt. Sie trennt das alte Franzosenviertel von dem neuen Stadtteil. Vor etwas mehr als 150 Jahren setzte Präsident Jefferson seinen Namen unter einen Kaufvertrag, der ihm von Napoleon angeboten wurde, und im Kaufvertrag stand nicht nur die Stadt New Orleans, sondern ganz Louisiana – und kein Mensch wußte damals, wo die Grenzen dieses unermeßlichen großen Landes waren. Der Kaufpreis betrug 15 Millionen Dollar. Umgerechnet auf heutige Verhältnisse, so wurde mir gesagt, entspräche das einem Hektarpreis von 4 Pfennigen! Dieser Kauf soll Amerikas bestes Geschäft gewesen sein, das es jemals gemacht hat. Doch Kauf hin, Kauf her – das „French Quarter“ lockt den Fremden, der in den Hochsommer flog und sich erst auf 28 Grad im Schatten einstellen muß.